Zusammenfassung – 4. Sitzung – 18.11.2016

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Vier Experten haben in der 4. Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses am 18. November 2016 über die organisierte rechte Gewalt im Land Brandenburg von 1991 bis 2011 ausgesagt. In der äußerst informativen Sitzung wurden eine Reihe von militanten Neonazistrukturen angesprochen, die für den weiteren Verlauf der Arbeit des Ausschusses relevant werden oder zumindest werden sollten. Auch gab es wichtige Hinweise auf die Verstrickungen des Brandenburger Verfassungsschutzes in die Aktivitäten der Potsdamer Neonazigruppierung „Nationale Bewegung“. Die Sitzung stieß auf reges öffentliches Interesse: die Besucher*innenplätze waren voll besetzt und es gab eine Vielzahl von Pressereaktionen, die in unserem Pressespiegel zu finden sind.

Ankündigung | Protokoll

Vortrag GStA Prof. Rautenberg

Als erster Experte sprach der Brandenburger Generalstaatsanwalt Prof. Dr. Erardo Christoforo Rautenberg. Er beschrieb die Arbeit der Justiz im Zusammenhang mit organisierter rechter Gewalt seit den 1990er Jahren in Brandenburg. „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, so seine Auffassung, seien Massenphänomene der „ersten Migrationskrise“ Anfang der 1990er Jahre gewesen. Die rechte Gewalt sei dabei systematisch unterschätzt und das Thema „gedeckelt“ worden. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz habe es um die 2000er Jahre „schwierige Zeiten“ gegeben. Als herausragende Beispiele nannte Rautenberg den Skandal um den Gubener Neonazi Toni Stadler, der zwischen 2000 und 2002 als V-Person des Brandenburger Verfassungsschutzes tätig war. Ebenfalls Thema waren die neonazistische Gruppierung „Freikorps Havelland“, deren Aktivisten 2005 wegen Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§129a StGB) verurteilt wurden und zudem die „Nationale Bewegung“, die 2000 und 2001 in Potsdam und Umgebung Anschläge verübte. Rautenberg berichtete über die Behinderung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen die „Nationale Bewegung“ durch den Verfassungsschutz. Er ging so weit, die Existenz der Gruppierung infrage zu stellen und legte somit nahe, dass es sich tatsächlich um eine Operation des Verfassungsschutz selbst gehandelt habe. Desweiteren erwähnte er das laufende Verfahren gegen eine mutmaßliche kriminelle Vereinigung aus Nauen um den NPD-Politiker Maik Schneider.

Rautenberg überging am Ende seines Vortrages, zum Unmut einiger Abgeordneter, die ihm im Vorhinein gestellten Fragen und äußerte sich nicht nur zur Thematik „rechte Gewalt“, sondern auch zur derzeitigen Asylpolitik des Bundes und der Länder. Er sprach von einer „zweiten Migrationskrise“, deren Lösung einer Obergrenze bedürfe. Diese „Migrationskrise“ müsse gelöst werden, um rechte Gewalt zu verhindern. Die Zuschreibung, dass Migration Ursache von Gewalt sei, sorgte für Protest unter den Gästen. Die drei folgenden Experten widersprachen Rautenberg und stellten in ihren Beiträgen heraus, dass Rassismus treibende Kraft und Ziel von extremen Rechten sei und nicht lediglich ein „Instrument“, wie Rautenberg sagte.

Vortrag Dirk Laabs

Der Journalist Dirk Laabs zeichnete in seinem Beitrag den Werdegang von Carsten Szczepanski und vor allem seine internationalen Kontakte, die er bereits in den ersten Jahren der 1990er Jahre hatte, nach. Er zeigte die vielfältigen ideologischen und personellen Verbindungen zum militanten Neonazismus, neben dem Ku Klux Klan zu Blood & Honour und Combat 18, auf. Daraus leitete Laabs das Urteil ab, dass Szczepanski immer „an den heißen Punkten“ der internationalen und nationalen Neonaziszene zu finden gewesen sei. Der Journalist äußerte Zweifel, dass Szczepanski erst seit 1994 für einen Geheimdienst gearbeitet habe. Offiziell soll er sich erst in jenem Jahr dem Brandenburger Verfassungsschutz angeboten haben. Laabs urteilte, die Aktivitäten Szczepanskis in der Neonazi-Szene und für den Verfassungsschutz betreffend: „Piatto war kein Betriebsunfall, das war System“.

Vortrag Dr. Botsch

Anschließend referierte der Potsdamer Politikwissenschaftler Dr. Gideon Botsch zur Entwicklung der organisierten rechten Gewalt in Brandenburg. Er benannte verschiedene Phasen, die eine zeitliche Parallelität zu den Aktivitäten des NSU aufweisen würden. Besonders wies er auf die Jahre 1996 bis 1999 hin, die er als „prototerroristische Latenzphase“ bezeichnete. Nach dem Rückgang von Straßenprotesten seien in dieser Zeit neue Strukturen entstanden, die schwere Gewalttaten vorbereiteten. In Bezug auf die Gegenwart, analysierte Botsch, hätten die seit etwa drei Jahren verstärkten rassistischen Straßenproteste abgenommen, das Niveau rechter Gewalt sei jedoch weiterhin hoch und es müsse damit gerechnet werden, dass sich Neonazis weiter radikalisieren würden. Auffällig sei, dass sich in den letzten 25 Jahren an den entscheidenden Positionen der Neonaziszene immer wieder V-Leute befanden und diese maßgeblich zum Aufbau der Strukturen in Brandenburg beigetragen hätten.

Vortrag Prof. Funke

Hajo Funke, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, sprach als letzter Experte und ergänzte die Aussagen seiner Vorredner. Dabei wies er auf die Bedeutung der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ um Michael Kühnen und Christian Worch hin, die sich in der Tradition der SA sahen und die in Ostdeutschland unter rechten Jugendlichen auf Resonanzboden stießen. Funke stellte seine Kritik an der Arbeit des Verfassungsschutzes heraus: „Der Verfassungsschutz hat nicht der Sache gedient, sondern war Teil des Problems“. Er riet vom Einsatz von V-Leuten ab. Auch, dass „Piatto“ so lange als V-Mann gehalten wurde, sei ein Skandal. Immer wieder sprach Funke die im Publikum anwesenden Vertreter*innen des Verfassungsschutzes direkt an und übte Kritik an der Arbeit ihrer Institutionen.

In der Fragerunde, die sich bis zum späten Nachmittag zog, versuchten die Abgeordneten präzisere Aussagen zu Teilaspekten der vorgestellten Themen zu erlangen.

Fazit

Die vier Sachverständigen haben durch ihre Ausführungen wichtige Grundlagen für die weitere Arbeit des Ausschusses geschaffen. Die Verwicklungen des Verfassungsschutzes in die Aktivitäten der „Nationalen Bewegung“, wie sie GStA Rautenberg andeutete, eröffnen weitere Fragen hinsichtlich der Arbeit des Dienstes und stellt seine Legitimierung abermals in Frage. Neben „Piatto“ und Stadler muss nun ein weiter Verfassungsschutz-Skandal die Abgeordneten beschäftigen. Trotz der sehr umfassenden Ausführungen von Dirk Laabs, kamen die neusten Erkenntnisse um „Piattos“ Handy – wie sie Die Welt in der letzten Woche veröffentlichte – und die Rolle des Verfassungsschutzes in der Ausschusssitzung nicht zur Sprache. Laabs wies darauf hin, dass wichtige Akten fehlen und es darum schwierig sei herauszufinden, ob „Piatto“ die SMS vom sächsischen Blood&Honour-Chef Jan Werner mit der Nachfrage „Was ist mit den Bums“ erhalten habe und der Verfassungsschutz also über Waffengeschäfte ihres V-Mannes Bescheid wusste. Der Verdacht verhärtet sich, dass der Verfassungsschutz „Piatto“ gezielt auf das NSU-Umfeld ansetzte.

Die nächste Sitzung findet am 19. Dezember 2016 statt.

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