In der Sitzung am 27. April 2018 beschäftigte sich der Potsdamer NSU-Untersuchungsausschuss mit der Enttarnung und Entpflichtung des V-Manns und Neonazis Carsten Szczepanski. Der Fokus der von der CDU-Fraktion eingeforderten Sondersitzung lag auf der politischen Dimension des Sommers 2000. Die CDU-Obleute wollten klären, welche Rolle der amtierende Justizminister von Brandenburg, Stefan Ludwig (Linke), damaliger PDS-Vize des Landes, bei der Enttarnung von „Piatto“ gespielt hatte. Gehört wurde auch der ehemalige Staatssekretär Eike Lancelle (CDU), der unter dem damaligen Innenminister Brandenburgs, Jörg Schönbohm (CDU), arbeitete. Auch Schönbohm selbst war geladen, konnte aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht erschienen.
Siehe hierzu diese Presseberichte:
http://www.pnn.de/brandenburg-berlin/1275699/
https://www.tagesspiegel.de/berlin/mutmasslicher-geheimnisverrat-brandenburger-nsu-ausschuss-laedt-minister-vor/21177870.html
Patrouillen in Königs Wusterhausen
Vor deutlich mehr Journalist*innen als sonst im Ausschuss üblich sagte als erster Zeuge Stefan Ludwig aus. „Ich will gleich zu Beginn sagen, dass ich von dem V-Mann aus dem Spiegel erfahren habe“, leitete er sein Statement zu seiner Rolle als ehemaliger Bürgermeister von Königs Wusterhausen und ehemaliges stellvertretendes Mitglied in der G10-Kommission ein. Danach skizzierte er die Neonaziszene von Königs Wusterhausen während der 1990er Jahre sowie den Wandel der Szene zum Jahreswechsel 1999/2000. Damals eröffnete Carsten Szczepanski sein Ladengeschäft Thule und versendete an Ludwig anonym per Postkarte einen Blood-&-Honour-Aufkleber, um diesen „auf ein neues Kampfjahr“ einzustimmen. Kurz zuvor waren mehr und mehr Einwohner*innen gegen die Neonazis aktiv geworden. Ludwig, damals PDS-Mitglied, arbeitete nach eigenen Angaben sowohl mit der örtlichen Antifa als auch der CDU zusammen, um gegen die Neonazis vorzugehen. Diese gebärdete sich schon bald nach der Wiedervereinigung als militante rassistische Ordnungsmacht, die viel Zuspruch fand. „Knallharte Rechtsextremisten“, erläuterte Ludwig auf Nachfrage von Ursula Nonnemacher (Die Grünen) waren etwa die gewaltbereiten United Skins – auch gab es eine Nachwuchsgruppe, die so genannten Baby Skins. Es kam nicht nur zu verbalen Auseinandersetzungen, sondern auch zu Brandanschlägen. Eine beliebte Machtdemonstration waren „Patrouillengänge“ mit Kampfhunden. Im Zusammenhang mit der neuen Struktur um Carsten Szczepanskis Ladengeschäft Thule erwähnte Ludwig auch Blood & Honour, Combat 18 und die National-Revolutionären Zellen (NRZ), ohne darauf weiter einzugehen.
„Piattos“ Enttarnung und Kontakt zum Verfassungsschutz
Obmann Jan Redmann (CDU) konfrontierte Ludwig in mehreren Fragerunden mit dem Verdacht, dass er den Spiegel über Szczepanskis V-Mann-Tätigkeit informiert hätte. „Piato“ (in damaligen Presseberichten geläufige Version des Decknamens „Piatto“) hätte nur auf diesem Wege im Artikel vom 10. Juli 2000 enttarnt haben können.
Ludwig wies diesen Vorwurf zurück: Mit dem Spiegel habe er gesprochen, von Szczepanskis V-Mann-Tätigkeit habe er aber selbst bis dato nichts gewusst. An die Namen der Journalist*innen erinnere er sich nicht. Er stand mit einigen Journalist*innen in gutem Kontakt, Hintergrundgespräche habe es öfter gegeben. Ludwig hob die Rolle der Presse, insbesondere des Tagesspiegels hervor, der seiner Erinnerung zufolge viele Rechercheergebnisse über Neonazis und deren Strukturen vorweisen konnte.
Als ein Indiz zitierte Redmann aus dem Neonazi-Fanzine Feuersturm aus Dresden, wonach Ludwig Carsten Szczepanski „zufällig“ verraten hätte. Der SPD war dieses Zitat unbekannt und sie monierte, dass diese Information nicht allen Fraktionen vorgelegen hätte.
Ludwig erklärte, die Behauptung, Szczepanski sei ein Spitzel gewesen, habe er selbst von der örtlichen Antifa bei einem Flurgespräch erfahren. Diesem Verdacht zufolge wäre jedoch die Polizei und nicht der Verfassungsschutz Auftraggeber von Szczepanski gewesen. Diese Annahme hätte er mit einigen Menschen diskutiert, möglicherweise sogar eine kleine Anfrage im Landtag vorbereitet – erinnern könne er sich nicht mehr genau. Einzige Neuigkeit im Schlagabtausch zwischen der CDU und Stefan Ludwig war die Information, dass Ludwig im Frühsommer des Jahres 2000 um ein Gespräch mit dem Verfassungsschutz gebeten haben soll – ob es stattfand, könne er sich nicht erinnern. Die CDU nannte als Gesprächspartner den Leiter der Abteilung Auswertung Jörg Milbradt und drohte Ludwig mehr frustriert als zielführend: „Das können wir ja im Keller genauer erläutern.“
Verfassungsschutz-Spitzel bei der PDS und Antifa
Die Befragung blieb öffentlich und offenbarte einen weiteren Aspekt der Verfassungsschutz-Arbeit in Königs Wusterhausen. Offenbar gab es dort eine Informantin, die über den stellvertretenden PDS-Landesvorsitzenden Ludwig berichtete. Die CDU zitierte immer wieder aus Verfassungsschutz-Unterlagen mit Informationen von dieser „Gewährsperson“, die zur Antifa und PDS zu zählen gewesen sei. Ludwig und die Linke-Obfrau Andrea Johlige skandalisierten, dass sich der Verfassungsschutz und damit das Innenministerium über solche Spitzeleien über die parlamentarischen Strategien der politischen Opposition informiert habe. Ludwig verbat sich indes eine Diskussion um die Glaubwürdigkeit der Person, da sie inzwischen verstorben ist. Dass eine Person aus seinem engeren politischen Wirkungskreis regelmäßig direkt an den Verfassungsschutz berichtet habe, habe ihn beim Aktenstudium der VS-Unterlagen zur Vorbereitung der heutigen Sitzung überrascht und „enttäuscht“.
Eine Enttarnung von wievielen?
Der Christdemokrat und Staatssekretär a.D. Eike Lancelle wurde als zweiter Zeuge gehört. Erst im November hatte er zur Nationalen Bewegung ausgesagt.
In seine Amtszeit von 1999 bis 2006 fällt nicht nur die Enttarnung von Carsten Szczepanski, sondern auch von jene von Christian Kö. und Toni Stadler. In der aktuellen Sitzung sprach Lancelle an einer Stelle von vier Enttarnungen. Die Enttarnung Szczepanskis nannte er einen ersten negativen Höhepunkt in der noch neuen Landesregierung.
Lancelle deckte Ludwig den Rücken: Er könne nicht bestätigen, dass dieser etwas von „Piattos“ Identität gewusst hätte. Die Entpflichtung sah er als notwendig an, als der Spiegel an den Verfassungsschutz herangetreten sei, um sich über einen V-Mann zu erkundigen. Aus seiner Erinnerung konnte Lancelle nicht rekonstruieren, ob der Spiegel den Decknamen „Piato“ in seiner Anfrage selbst genannt hatte, oder es nur intern vom Verfassungsschutz so eindeutig verhandelt worden war. Dieser Erinnerungsverlust wurde von der Obfrau der Grünen Ursula Nonnemacher moniert, schließlich habe „den ganzen Juni über Feuer unterm Dach gebrannt.“ Auch die anderen Fraktionen hakten nach: Es kursierten Gerüchte, dass der Name aus internen Kreisen durchgestochen worden sei. Wer dafür verantwortlich war oder sein könnte, war Lancelle nicht erinnerlich, obwohl er selbst am 5. Juli 2000 an den Vorsitzenden der Parlamentarischen Kontrollkommission, Christoph Schulze, geschrieben haben soll, dass die Abschaltung „wegen offenkundiger Indiskretion aus den Sicherheitsbehörden des Landes“ nötig geworden sei. Zwei mögliche Wege wurden dargelegt: Einerseits zitierte die SPD-Obfrau Inka Gossmann-Reetz aus einem Fax vom Verfassungsschützer Jörg Milbradt vom 28. Februar 2000, in dem er das Landeskriminalamt bat, von Ermittlungen gegen Szczepanski abzusehen. Andererseits stellte die Linke-Fraktion dar, dass die Berliner Morgenpost gemeldet hatte, dass direkt nach der Enttarnung im Juli 2000 zwei Polizeibeamte vom Dienst suspendiert worden waren.
In der Causa „Piatto“ konnte Lancelle wenig Licht ins Dunkel bringen. Am Ende der Befragung legte er dar, dass er die formale Entpflichtung Szczepanskis nach seiner Enttarnung trotz dessen informellen Status für gerechtfertigt hält, da die langjährige Arbeit ein ähnlich förmliches Verhältnis wie die V-Mann-Tätigkeit begründen würde. Als „nicht gut“ bezeichnete er den Umstand, dass das Postfach eines V-Manns der Brückenkopf zur internationalen gewalttätigen Neonaziszene gewesen sei.