Der Potsdamer NSU-Untersuchungsschuss führte am 11. Januar 2018 die Vernehmungen von Zeug*innen zum Komplex um den Neonazi-V-Mann Carsten Szczepanski fort. Wichtige Themen waren der Zeitpunkt der tatsächlichen Anwerbung Szczepanskis durch einen Geheimdienst ab 1992, verschleppte Ermittlungen der Brandenburger Staatsanwaltschaften gegen ihn und Vergünstigungen während seiner Haft. Zur Sprache kamen außerdem Details zur Nicht-Verfolgung eines Polizeibeamten wegen Strafvereitelung nach einer verratenen Razzia gegen die Brandenburger Neonaziszene 2001.
Vernommen wurden fünf Zeug*innen. Nicht gehört werden konnte der durch Attest entschuldigte Staatsanwalt Sternberg.
Die Ergebnisse der Sitzung werden in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (PNN) so zusammengefasst: „Der Skandal um den Brandenburger V-Mann ‚Piatto‘ zieht immer weitere Kreise und erfasst nun sogar die Justiz: Offenbar war der kriminelle Neonazi mit dem Decknamen schon 1992 V-Mann. Die Justiz schütze ihn vor der Strafverfolgung.“ Auch in der Zeitung Neues Deutschland fällt das Resummee: „Es gibt die Vermutung, es habe schon früher ein Geheimdienst seine schützende Hand über Szczepanski gehalten.“
Rechtsanwalt Christoph Kliesing
Der relevanteste Zeuge der Ausschusssitzung war der Berliner Rechtsanwalt Kliesing, der als Nebenklagevertreter seit 1992 mehrmals mit Szczepanski zu tun hatte.
Er konnte in seiner Aussage plausibel anhand genauer Daten und den persönlichen Umständen Szczepanskis darstellen, warum er starke Anhaltspunkte sieht, dass dieser bereits Anfang 1992 als Spitzel eines Geheimdienstes angeworben worden sei. Offiziell heißt es bislang, dass Szczepanski erst 1994 aus der Haft heraus Kontakt mit dem Brandenburger Verfassungsschutz knüpfte und dann nur zwischen 1997 bis 2000 als V-Mann tätig war.
Kliesing beschrieb, das Ermittlungen gegen Szczepanski immer wieder mit Einstellungen endeten. Wegen Pressedelikten – unter anderem KKK-Fanzines – seien die Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft allesamt bis zur Verjährung verschleppt worden. Ähnlich sei es bei einem Verfahren wegen eines von ihm mitorganisierten Neonazikonzerts in Prieros gewesen. Wegen des Brandanschlags in Dolgenbrodt wurde gegen ihn nie ermittelt. Ein gegen ihn von der Bundesanwaltschaft (GBA) nach Potsdam zurückverwiesenes Verfahren sei von der hiesigen Staatsanwaltschaft systematisch verschleppt und dann eingestellt worden. Kliesing bewertete dieses Gebaren der brandenburgischen Behörden als „fast schon kriminell“ und sieht den Straftatbestand Strafvereitlung gegeben.
Das entscheidende Datum in der Biographie des V-Manns Szczepanski findet sich nach Kliesing während der U-Haft infolge einer Durchsuchung im Jahr 1992 in Königs Wusterhausen. Die Durchsuchungsaktion habe auf „fake news“ – auf gefälschten Vermutungen – basiert. Durch Akten der Generalbundesanwaltschaft lasse sich, so Kliesing, Durchsuchung, Verhaftung, seine Aussagen und Freilassung genau rekonstruieren. Nur über den 23. Februar 1992 – dem Tag nach der Festnahme – sei nichts dokumentiert. Doch nach diesem Datum änderte sich das Verhalten Szczepanskis fundamental. Er habe umfangreiche Aussagen gemacht und von nun an beginne die Serie der Verfahren, die glimpflich für Szczepanski endeten. Kliesing: „Was war an diesem Tag, wer sprach mit ihm, wer veranlasste die Freilassung?“
Kliesing hält an diesem Tag eine Rekrutierung durch einen Inlandsgeheimdienst für wahrscheinlich – welcher sei jedoch unsicher. Die „Legende“ der Verpflichtung Szczepanskis 1994 sei vermutlich real, und hier habe lediglich eine „Übergabe“ des V-Manns von einem Geheimdienst zum Brandenburger VS stattgefunden..
Während der Vernehmung des Zeugen Kliesing wurde deutlich: Die Handakten der Generalbundesanwaltschaft, auf die sich der Rechtsanwalt bezog, sind dem brandenburgischen Untersuchungsausschuss bisher nicht bekannt. Als Argument gaben die Obleute an, dass der GBA ihnen mitgeteilt habe, die eigentlichen Akten seien vernichtet worden. Die Handakten aber waren im Münchener NSU-Verfahren und auch im Bundestagsuntersuchungsausschuss bereits Gegenstand und hätten vom Brandenburger Pua von diesen angefragt werden können.
Detailliert schilderte Kliesing zudem, wie mühsam die Ermittlungen gegen Szczepanski im Falle des fast vollendeten, brutalen Mordversuchs gegen den Nigerianer Steve Erenhi in Wendisch Rietz 1992 verlaufen seien. Zunächst sei nur gegen den einen Haupttäter Kai Müller, jedoch nicht gegen den zweiten Haupttäter Szczepanski ermittelt worden. Später erst wurde vom zuständigen Staatsanwalt Bannenberg in Frankfurt Oder Szczepanski ein Körperverletzungsdelikt vorgeworfen – aus Sicht von Kliesing juristisch unhaltbar. Erst nachdem die Staatsanwältin Marx den Fall übernommen habe, sei daraus die Anklage wegen versuchten Mordes geworden. Diese brachte Szczepanski schließlich die Verurteilung zu acht Jahren Haft ein, die er in der JVA Brandenburg a.d.H. antrat. Kliesing hatte versucht, mit dem Brandenburger Verfassungsschutz Kontakt aufzunehmen, um für das Gerichtsverfahren Informationen über die Neonazi-Aktivitäten von Szczepanski zu erhalten. Der stellvertretende Leiter Jörg Milbradt habe dies verweigert.
Die Führung des V-Manns Szczepanski durch den Brandenburger Verfassungsschutz sei fragwürdig und dilettantisch gewesen, so Kliesing: „Wenn man V-Mann-Führer Görlitz und Szczepanski nebeneinander sieht, dann weiß man, wer da wen geführt hat“ Der V-Mann-Führer mit dem Dienstnamen „Rainer Görlitz“ sei faktisch eher als „Fahrdienst“ für Szczepanski anzusehen gewesen.
Kliesing wies am Rande darauf hin, dass ein wichtiges Detail bisher nicht Thema im Brandenburger Ausschuss gewesen sei: Der Landes-Verfassungsschutz wusste im September 1998 durch Szczepanski, dass sich das dann untergetauchte NSU-Kerntrio in Chemnitz aufhielt. Dies sei nicht in den Deckblattmeldungen des V-Manns festgehalten, aber durch eine Aktennotiz aus Thüringen bekannt. Wäre diese Szczepanski-Information korrekt verarbeitet und weitergegeben worden, hätte dies zu einer Festnahme der flüchtigen Neonazis und somit zur Verhinderung der NSU-Morde führen können.
Staatsanwältin Kerstin Langen
Langen war in der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft zusammen mit Staatsanwältin Marx beschäftigt (Marx hatte im Dezember ausgesagt). Langen hatte einen Besuchsantrag eines Verfassungsschutz-Mitarbeiters beim inhaftierten Szczepanski bearbeitet. Sie konnte oder wollte angesichts von Erinnerungslücken vor dem Ausschuss nichts Relevantes dazu beitragen.
Staatsanwalt Ewald Bröhmer
Bröhmer war stellvertretener Generalstaatsanwalt und Leiter der Abteilung 1 in der Behörde. Zu konkreten Komplexen – etwa zum Dolgenbrodt-Prozess oder den Ermittlungen gegen die Nationale Bewegung konnte oder wollte Bröhmer angesichts von Erinnerungslücken nichts sagen.
Prof. Dr. Michael Lemke, ehemals Abteilungsleiter im brandenburgischen Justizministerium
Lemke, seit 2008 im Ruhestand, war in hohen Funktionen im brandenburgischen Justizministerium tätig. Im Ausschuss gab sich Lemke redselig, wich immer wieder vom Thema ab, zog sich bei konkreten Fragen jedoch regelmäßig auf Erinnerungslücken zurück. In der Befragung wurde deutlich, dass in Akten nachvollziehbar ist, dass Lemke 1996 für Szczepanski eine Halbierung seiner Haftstrafe in Aussicht gestellt hatte. Ein weiterer Aspekt: In einem Schreiben hatte der Brandenburger Verfassungsschutz-Leiter Wolfgang Pfaff damit gedroht, dass das Justizministerium den Zeugenschutz in Höhe von mehreren Millionen Mark tragen müsse, wenn dieser durch eine Aussage im Dolgenbrodt-Prozess auffliegen würde. Lemke mochte sich zur Frage, ob der Verfassungsschutz Druck auf das Justizministerium ausgeübt hatte, nicht äußern. Ebenfalls nicht äußern wollte er sich zu von ihm verfassten Notizen („non-papers“), die in den Akten überliefert sind. Unter anderem berichtete er darin, dass er „Sechsaugengespräche“ zwischen seinem Hause, sowie den Abteilungen IV und V im Innenministerium vorschlage, um ein schlagkräftiges Krisenmanagement zur verratenen Razzie zu entwickeln. In einem anderen „non paper“ hatte er festgehalten, das mit dem Generalstaatsanwalt vereinbart worden sei, dass die Staatsanwaltschaft in Potsdam einen Bericht zu einem möglichen Ermittlungsfahren gegen LKA’ler Lüdders wegen Strafvereitelung abgeben werde. Dieser werde das Ergebnis haben, dass kein Ermittlungsverfahren eingeleitet werde. Die Formulierungen werfen Fragen auf – wie kann ein Justizministeriumsmitarbeiter festhalten oder festlegen, was die Arbeit der Staatsanwaltschaft für Ergebnisse bringen wird? Den Fakt, dass der Geheimnisverrat um die Razzia 2001 zwei Jahre lang von der Polizei nicht an die Staatsanwaltschaft gemeldet wurde, wurde von Lemke nicht bestritten. Lemke stellte sich als Kämpfer gegen Rechtsextremismus dar – er habe Opferschutzeinrichtungen wie die Opferperspektive gegründet und forciert.
Staatsanwalt Heinrich Junker
Junker, ein hochrangiger Staatsanwalt in Potsdam, betonte eingangs, dass er über keine konkreten Erinnerungen verfüge. An Szczepanski konnte er sich erinnern, relevanter hingegen war seine Rolle bei den Ermittlungen zur verratenen Razzia im Komplex um die Nationale Bewegung in Potsdam und Umgebung. Er hatte nach Rückkehr aus dem Urlaub die ihm unterstellte Staatsanwältin Böhm angewiesen, gegen den LKA-Chef Axel Lüdders kein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung anzustellen (Böhm hatte im November im Ausschuss ausgesagt). Junker verteidigte diesen Schritt: Ein Ermittlungsverfahren hätte eine Belastung für den LKA-Direktor bedeutet. Dies wäre nicht zu rechtfertigen gewesen, da das Verfahren wahrscheinlich ohnehin eingestellt worden wäre. „Objektiv“ habe der Straftatbestand der Strafvereitelung vermutlich vorgelegen, auf „subjektiver“ Ebene wäre dies aber schwer nachweisbar gewesen. Während der Befragung Junkers wurde zudem deutlich, dass es Aktenhinweise darauf gibt, dass Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg an der Entscheidung, Ermittlungen zu unterlassen, beteiligt gewesen ist.