In der Sitzung des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses wurde Jörg Milbradt vernommen. Er arbeitete von 1991 bis 2004 beim Verfassungsschutz Brandenburg, leitete von Juli 1994 bis 2001 das Referat Auswertung, bis 2004 war er stellvertretender Leiter der Behörde.
Quelle: NSU Watch
Bericht von der Sitzung des Untersuchungsausschusses des Bundestages am 19. Januar 2017
In der ersten Sitzung des neuen Jahres hatte der Untersuchungsausschuss vier Zeugen geladen, von denen Wolfgang Cremer (ehem. BfV) und Jörg Milbradt (ehem. LfV Brandenburg) in öffentlicher Sitzung vernommen wurden. Beide waren in hohen Positionen beim Verfassungsschutz tätig gewesen und berichteten über die Kenntnisse des Verfassungsschutzes über das Kern-Trio bzw. über den Umgang mit V-Leuten, die sich in Umfeld von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos befanden. Auch in dieser Sitzung war das öffentliche Interesse groß und die Besucher_innentribüne voll besetzt.
Zeugen:
- Wolfgang Cremer (ehem. Leiter Abteilung Rechtsextremismus im BfV)
- Jörg Milbradt (ehem. stellv. Leiter LfV Brandenburg)
Zeuge Wolfgang Cremer
Als erstes wurde Wolfgang Cremer durch die Abgeordneten befragt. Cremer war von 1995 bis 2004 Leiter der Abteilung Rechtsextremismus im BfV, also in der Zeit, in der das NSU-Kerntrio untertauchte und die meisten Morde verübte. Für ihn war es die zweite Befragung durch einen Untersuchungsausschuss des Bundestages – er sagte bereits vor dem ersten Bundestags-Untersuchungsausschuss aus (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/CD14600/Protokolle/Protokoll-Nr%2024a.pdf)
Auf die Fragen des Ausschussvorsitzenden Clemens Binninger (CDU) bestätigte Cremer, dass der Bereich Rechtsextremismus eher nur in den 90ern als Bedrohung gesehen wurde, Anfang der 2000er hatte das BfV nach Aussage Cremers das Gefühl, „das Problem im Griff zu haben“. Wie sehr das BfV mit dieser Einschätzung daneben lag, ist bekannt und zeigte sich erneut in dieser Sitzung.
Wenn der NSU sich doch mal aus dem Untergrund gemeldet hätte…
Das BfV sei jahrelang davon ausgegangen, dass es keine untergetauchten rechtsterroristischen Strukturen gäbe, nach Erkenntnis des BfV hätte es an Unterstützungsstrukturen gefehlt. Dennoch war das NSU-Kerntrio seit Mitte der 90er bekannt. Cremer bezeichnete die drei vor dem PUA als Ausnahme, denen es als einzige gelungen sei, unterzutauchen. Auf Nachfrage des Abgeordneten Ulrich (CDU/CSU) zu den 2003 verjährten Haftbefehlen (wegen der Bombenattrappe vor dem Jenaer Theater im September 1997) entgegnete Cremer, dass zu dieser Zeit das Kerntrio völlig aus dem Blick des BfV verschwunden war. Als Grund dafür nannte Cremer fehlende „Meldungen“ aus dem Untergrund, wie beispielsweise Schriften. Dabei war es gerade das Ziel des NSU-Kerntrios den Behörden nicht aufzufallen und ist folglich nur logisch, dass es eben keine Veröffentlichung in rechten Szenezeitschriften gab.
Bombenbastler basteln nur Bomben, zünden sie aber nicht
Den Bericht über das NSU-Kerntrio in einem Dossier des BfV 2004 stellte Cremer als Teil einer Übersicht über die gesamte rechte Szene seit den 90ern dar – es habe damals keine aktuellen Erkenntnisse gegeben. Warum der Bericht aber keine neuen Ermittlungen auslöste, konnte Cremer nicht überzeugen erklären. Seine Begründung lautete: Man habe Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als Bombenbastler eingestuft, die nicht den Eindruck machten, die Bomben auch zünden zu wollen. Es sei ihnen wohl eher um die Androhung gegangen. Trotz mehrfacher Nachfragen der Abgeordneten blieb Cremer bei dieser Aussage.
Ähnlichkeit zum Anschlag von Combat 18 in London
Manchmal zog das BfV aber durchaus die richtigen Schlüsse aus ihren Erkenntnissen. So wurde kurze Zeit nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße das LfV Nordrhein-Westfalen kontaktiert. Cremer sagte, dass dem BfV die Ähnlichkeit mit dem Nagelbombenanschlag von Combat-18 in London im April 1999 oder dem Oktoberfest-Attentat schon aufgefallen war. Daher sei auch eigeninitiativ nach einem rechten Hintergrund geschaut worden und auch das örtliche LfV kontaktiert worden. Warum aber das NSU-Kerntrio nicht direkt mit abgeglichen worden sei oder die Parameter der Suche in den Datenbanken der Behörden erweitert wurden, konnte Cremer nicht erklären.
V-Leute im Umfeld des Kerntrios
Die Abgeordneten Irene Mihalic (Grüne) und Petra Pau (Linke) wollten von Cremer wissen, welche Versuche seitens des BfV unternommen wurden, über ihre Quellen an das Kern-Trio heranzukommen.
Der V-Mann Thomas Richter, alias Corelli, hatte 1995 lose Kontakte zu Mundlos. Mihalic fragte, ob versucht wurde, diesen zu nutzen. Cremer hatte diesbezüglich keine Erinnerung, ob das BfV von dem Kontakt wusste: „Die Akten sind meist präziser als mein Gedächtnis“. Außerdem zeigte sich hier der Konflikt, dass V-Leute eigentlich keinen maßgeblichen Einfluss in der Szene haben dürfen (Corelli hatte beim Ku-Klux-Klan den Rang eines Anwerbers inne). Cremer stimmte grundsätzlich zu, gab aber zu bedenken: wer in der Szene nichts zu sagen habe, bekomme meist auch keine Information. Hier müsse daher immer ein Mittelweg gefunden werden.
Petra Pau wollte von Cremer mehr zu den V-Leuten Carsten Szczepanski, alias Piatto, und Ralf Marschner, alias Primus, wissen. Piatto habe 1998 gemeldet, dass nach Aussage von Antje Probst (Mitglied von Blood&Honour Sachsen) sich in Chemnitz drei untergetauchte Nazis aufhalten. Da Piatto aber V-Mann des LfV Brandenburg war, sei dieses für die Erkenntnisverwertung und -weitergabe zuständig gewesen.
Marschner befand sich in unmittelbarer räumlicher Nähe zum NSU-Kerntrio und beschäftigte wahrscheinlich Uwe Mundlos in seiner Firma. Cremer verwies hier erneut auf seine fehlende Erinnerung. Dass ein Großteil von Marschners Angestellten polizeibekannte Neonazis waren und das BfV anscheinend nichts davon wusste, begründete Cremer mit der vermutlich selektiven Berichterstattung von Marschner. Marschners Aussagen wurden anscheinend nie hinterfragt oder überprüft.
Zeuge Jörg Milbradt
Als nächstes folgte in öffentlicher Sitzung die Vernehmung von Jörg Milbradt. Dieser arbeitete von 1991 bis 2004 beim LfV Brandenburg, leitete von Juli 1994 bis 2001 das Referat Auswertung und hatte zusätzlich noch den Posten des stellvertretenden Leiters des LfV Brandenburg inne. Milbradt begann zunächst mit einer Erklärung, in der er die Arbeit des LfV und seine eigene in Bezug auf die rechte Szene Brandenburgs und besonders den Umgang mit dem V-Mann Carsten Szczepanski alias Piatto darstellte. In dieser zeichnete er ein sehr positives Bild des Amtes und seiner eigenen Tätigkeit. Ihm sei „vom ersten Tag an“ bewusst gewesen, dass die größte Bedrohung für die Sicherheit vom Rechtsextremismus ausgehe. Er empfinde den geäußerten Vorwurf der Verharmlosung von Rechtsextremismus durch das LfV als unzutreffend und persönliche Kränkung.
V-Mann Piatto war „hochwillkommen“
Als besonders nützlich für das LfV stellte er den V-Mann Piatto dar. Dessen Informationen haben unter anderem zum Verbot der Kameradschaft Oberhavel (im Jahr 1997) und Blood & Honour in Deutschland beigetragen. Dass es erst ab 1993 ein Gesetz zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel für das LfV gab, war nach Darstellung Milbradts der Grund warum das LfV kaum Einblicke in die rechte Szene Brandenburgs hatte. Deshalb war das Angebot Szczepanskis, Informationen hierzu zu liefern, „hochwillkommen“. Seine kriminelle Karriere wurde zwar als Problem gesehen. Milbradt erklärte dazu, das LfV hätte ihn von sich aus nicht angefragt. Aber da er sich als Quelle angeboten hatte, sei dies was anderes gewesen. Es war zwar ein „moralisches Übel“, aber da sich die parlamentarischen Verantwortlichen sogar Rat beim Vorsitzenden des Zentralrates der Juden holten (Ignatz Bubis) und dieser „seinen Segen“ gab, sah Milbradt auch kein Dilemma mehr.
Nichtergreifung des Kern-Trios ist „bedauernswert“…
Zur Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden erklärte Milbradt, die Hinweise auf das Kern-Trio in Chemnitz seien in geeigneter Weise (d.h. ohne Rückschlüsse auf Piatto zuzulassen) an das LKA Thüringen weitergegeben worden. Diese Hinweise hatten außerdem auch zur Telefonüberwachung von Jan Werner und Antje Probst geführt. Dass alle diese Maßnahmen und Hinweise nicht zur Ergreifung von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt führten, bezeichnete Milbradt als „bedauernswert“.
…aber Vorwürfe gegen das LfV Brandenburg sind „ungeheuerlich“
Insgesamt wäscht das LfV Brandenburg seine Hände in Unschuld. Man habe alles Mögliche unternommen, Rechtsextremismus als Bedrohung sehr ernst genommen, und sich beim V-Mann Piatto die Entscheidung nicht leicht gemacht. Milbradt betonte daher nochmal am Ende seiner Ausführungen, wie entsetzt er über den „ungeheuerlichen Vorwurf“ sei, das LfV habe der Polizei Informationen vorenthalten. Nach diesem längeren Eingangsstatement begannen die Abgeordneten dann mit ihren Fragen, als erstes der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU): Er verstehe das moralische Dilemma, bleibe aber dennoch bei der Wertung, dass eine Verfassungsschutzbehörde keine Person, die wegen versuchten Mordes verurteilt sei, als Quelle annehmen dürfe.
Kein Anschluss unter dieser Nummer – „Was ist mit dem Bums“
Binninger fand es unverständlich, warum die SMS („Was ist mit dem Bums“), die Piatto am 25.8.1998 von Jan Werner erhielt, keine weiteren Folgen hatte. Milbradt erklärte dazu, dass diese SMS nur dem LfV bekannt wurde, da das Handy an diesem Tag ausgetauscht wurde. Sie hätte auch dem LKA Thüringen auffallen müssen, da dieses Werners Handy überwachte. Es habe aber nie Nachfragen dazu vom LKA gegeben. Diese Erklärung konnte den Ausschussvorsitzende nicht zufriedenstellen. Wenn eine Quelle eine Handy-Nummer nutze, um Kontakt in der Szene zu halten, dann sei es doch lebensfremd, dass nach dem Austauschen des Handys und damit auch der Nummer niemand mehr auf das nunmehr alte Handy schaut. Es sei durchaus plausibel, dass da noch Nachrichten von Leuten ankommen, die die neue Nummer noch nicht haben.
Milbradt berichtete, dass Szczepanski im Oktober 1998 den ausdrücklichen Auftrag bekommen hatte, neue Hinweise zu den flüchtigen Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in Erfahrung bringen solle. Dies konnte er aber nur nicht allzu insistierend fragen, da er in der Szene schon unter Spitzelverdacht stand. [Seine Informationen hatten im Oktober 1998 zur Beschlagnahmung von einer großen Menge CDs der später als kriminellen Vereinigung verbotenen Neonaziband Landser geführt.]
Praktikum in Nazi-Laden sorgte für vorzeitige Haftentlassung von Piatto
Petra Pau (Linke) lenkte den Fokus auf die Kontakte Szczepanskis nach Limbach-Oberfrohna, einer Kleinstadt nahe Chemnitz. Diese Kontakte zu Michael und Antje Probst, sowie Jan Werner hatten sich aus der Skinhead-Musik-Szene ergeben und bestanden, so Milbradt, mindestens seit 1997. Das Praktikum in dem Laden von Antje Probst in Limbach-Oberfrohna, für das Szczepanski vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, habe er selbst vorgeschlagen. Die Haftstrafe wurde also ausgesetzt, damit der Nazi und V-Mann Carsten Szczepanski eher wieder bei seinen Nazi-Kumpels sein konnte. Fragt sich, wer davon mehr profitierte: das LfV Brandenburg, weil seine Quelle wieder komplett in der Szene war und außerdem die Kosten für Fahrten wegfielen, oder Szczepanski selbst, weil er nicht mehr nur zeitweise in der Szene aktiv sein konnte. Trotz seiner intensiven Kontakte in die Chemnitzer Nazi-Szene sei Szczepanski aber nie den drei Flüchtigen Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos begegnet.
LfV finanzierte wahrscheinlich rechtes Fanzine mit
Außerdem thematisierte sie noch das Fanzine, welches Szczepanski sogar während seiner Haft herausgab (United Skins). Besonders wollte Pau wissen, wie das LfV Brandenburg mit den Aufrufen zu Gewalt umgegangen sei und ob Milbradt ausschließen könne, dass Szczepanski sein V-Mann-Honorar für das Zine verwendete. Milbradt antwortete darauf, dass Szczepanski während seiner Haftzeit an der Herstellung nur mitwirkte, aber keine Verantwortung innehatte. Bezüglich der Aufrufe zur Gewalt gab es nur den Hinweis, dass er strafrechtlich relevante Inhalte vermeiden sollte. Wofür die Aufwendungen für seine Informationen letztendlich genutzt wurde, konnte nach Aussage Milbradts niemand kontrollieren. Dies heißt, dass es möglich und durchaus wahrscheinlich ist, dass das LfV Brandenburg ein Neonazi-Fanzine mitfinanzierte und so direkte finanzielle Unterstützung der Neonaziszene leistete.
Gefahr von rechter Gewalt kontinuierlich unterschätzt
Die Aussagen beider Zeugen zeigen erneut die eklatante Diskrepanz in den Behörden auf. Einerseits die Hoffnung Informationen aus der rechten Szene zu erhalten und andererseits die tatsächlichen Resultate, die dabei herausgekommen sind. So wurden V-Leute erneut als unverzichtbar dargestellt und die Beschlagnahmung von CDs von rechten Bands als Erfolg gefeiert, wohingegen die Nicht-Ergreifung des Kern-Trios nur bedauerlich sei. Dessen Unterschätzung durch die Verfassungsschutzbehörden, wonach sie die Bomben nur basteln, aber nicht zünden, zeugt von einer unfassbaren Realitätsferne und Ignoranz gegenüber der seit Jahrzehnten bekannten Gefahr durch rechtsterroristische Straftaten.
Für den nicht öffentlichen Teil der Sitzung war laut Vorabankündigung des Ausschusses noch zwei ehemalige Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes geladen. Bei einem von ihnen dürfte es sich um Volker He. handeln, der am 15.12.2015 bereits öffentlich im NSU-Prozess in München aussagte.